Der Begriff Off-Label-Use bezeich­net die Anwen­dung von Arz­nei­mit­teln außer­halb des Rah­mens, der durch die jewei­li­ge arz­nei­mit­tel­recht­li­che Zulas­sung vor­ge­ge­ben ist. Hier­un­ter fällt sowohl die Nut­zung bei einer ande­ren Indi­ka­ti­on als ursprüng­lich zuge­las­sen als auch die Abwei­chung in Dosie­rung oder Dar­rei­chungs­form. In Deutsch­land basiert die Zulas­sung auf dem Arz­nei­mit­tel­ge­setz, wäh­rend sich Fra­gen der Erstat­tungs­fä­hig­keit vor allem nach dem Sozi­al­ge­setz­buch V (SGB V) rich­ten, das Vor­ga­ben zur Kos­ten­er­stat­tung für gesetz­lich Ver­si­cher­te ent­hält.

I. Hin­ter­grund: Der Off-Label-Use im recht­li­chen Kon­text

Arz­nei­mit­tel müs­sen in Deutsch­land die Anfor­de­run­gen an Qua­li­tät, Wirk­sam­keit und Unbe­denk­lich­keit erfül­len, um offi­zi­ell zuge­las­sen zu wer­den. Die Fach­in­for­ma­ti­on legt dabei fest, für wel­che Indi­ka­tio­nen und unter wel­chen Bedin­gun­gen sie ein­ge­setzt wer­den dür­fen. In der Pra­xis kann es jedoch gute Grün­de geben, ein Medi­ka­ment außer­halb die­ser geneh­mig­ten Ein­satz­be­rei­che zu nut­zen, bei­spiels­wei­se wenn es kei­ne geeig­ne­te Stan­dard­the­ra­pie mehr gibt oder wenn neue wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se einen posi­ti­ven Nut­zen nahe­le­gen. Für die gesetz­li­che Kran­ken­ver­si­che­rung stellt sich dann die Fra­ge, ob die Kos­ten für die­sen Off-Label-Use über­nom­men wer­den kön­nen.

II. Vor­aus­set­zun­gen für den Off-Label-Use

Nach der gän­gi­gen Recht­spre­chung und den sozi­al­recht­li­chen Bestim­mun­gen müs­sen in der Regel drei zen­tra­le Vor­aus­set­zun­gen erfüllt sein, damit ein Off-Label-Use erstat­tungs­fä­hig ist:

1. Schwe­re oder lebens­be­droh­li­che Erkran­kung

Grund­le­gend ist, dass eine Erkran­kung vor­liegt, die ent­we­der lebens­be­droh­lich oder zumin­dest schwer­wie­gend ist und den Gesund­heits­zu­stand erheb­lich beein­träch­tigt. Bei­spie­le kön­nen Krebs­er­kran­kun­gen oder ande­re fort­ge­schrit­te­ne, chro­ni­sche Lei­den sein.

2. Feh­len­de Alter­na­tiv­the­ra­pie

Ein Off-Label-Use kommt nur dann in Betracht, wenn kei­ne ande­re zuge­las­se­ne The­ra­pie ver­füg­bar ist, die glei­cher­ma­ßen wirk­sam wäre. Das bedeu­tet, dass die eta­blier­te medi­zi­ni­sche Behand­lung aus­ge­schöpft sein muss oder nicht vor­han­den ist. Das Medi­ka­ment, das Off-Label ein­ge­setzt wird, hat somit eine beson­de­re Bedeu­tung als ein­zig oder zumin­dest aus­sichts­reichs­te Opti­on.

3. Posi­ti­ve Erkennt­nis­se (hin­rei­chen­de Aus­sicht auf Erfolg)

Auch wenn eine for­ma­le Zulas­sungs­stu­die unter Umstän­den nicht vor­liegt, müs­sen zumin­dest wis­sen­schaft­li­che Daten, Publi­ka­tio­nen oder Leit­li­ni­en exis­tie­ren, die eine hin­rei­chen­de Aus­sicht auf einen the­ra­peu­ti­schen Nut­zen nahe­le­gen. Ein rei­ner „Blind­ver­such“ ohne jeg­li­che Evi­denz gilt als nicht erstat­tungs­fä­hig. Dabei kann eine gerin­ge­re Evi­denz­stu­fe als bei einer klas­si­schen Zulas­sungs­stu­die zuläs­sig sein, solan­ge deut­li­che Hin­wei­se auf Wirk­sam­keit und Nut­zen bestehen.

III. Der „Niko­laus-Beschluss“ des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts

Eine wesent­li­che Wei­chen­stel­lung zum Off-Label-Use lie­fer­te der soge­nann­te „Niko­laus-Beschluss“ des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom 6. Dezem­ber 2005 (Az. 1 BvR 347/98, 1 BvR 348/98). Dort wur­den fol­gen­de Kern­punk­te her­vor­ge­ho­ben:

1. Grund­recht­li­che Per­spek­ti­ve

Bei lebens­be­droh­li­chen oder töd­lich ver­lau­fen­den Erkran­kun­gen grei­fen das Grund­recht auf Leben und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit (Art. 2 Abs. 2 GG) sowie das Sozi­al­staats­prin­zip. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt argu­men­tier­te, dass Kran­ken­kas­sen nicht pau­schal an hohen Evi­denz­an­for­de­run­gen fest­hal­ten kön­nen, wenn andern­falls die Gesund­heit oder gar das Leben des Ver­si­cher­ten aufs Spiel gesetzt wird.

2. Abwä­gung zwi­schen Schutz und Chan­ce

Die GKV ist gehal­ten, Leis­tun­gen zu gewäh­ren, sofern eine „nicht ganz fern­lie­gen­de Aus­sicht“ auf Hei­lung oder Bes­se­rung besteht. Zwar muss eine gewis­se wis­sen­schaft­li­che Grund­la­ge vor­han­den sein, den­noch darf eine poten­zi­ell lebens­ret­ten­de The­ra­pie nicht allein wegen feh­len­der Voll­zu­las­sung abge­lehnt wer­den.

3. Gren­zen des Off-Label-Use

Trotz die­ser erwei­ter­ten Betrach­tung beton­te das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, dass Off-Label-Anwen­dun­gen nicht belie­big erfol­gen dür­fen. Sie müs­sen sich zumin­dest auf belast­ba­re wis­sen­schaft­li­che Daten stüt­zen und dür­fen nicht völ­lig ins Unge­wis­se gehen.

IV. Bedeu­tung in der sozi­al­recht­li­chen Pra­xis

Mit sei­nem Beschluss lie­fer­te das höchs­te Gericht einen ver­fas­sungs­recht­li­chen Rah­men, der von den Fach­ge­rich­ten — ins­be­son­de­re dem Bun­des­so­zi­al­ge­richt (BSG) — über­nom­men und prä­zi­siert wur­de. In die­sem Zusam­men­hang gilt eine drei­stu­fi­ge Prü­fung, in deren Ver­lauf die Schwe­re der Erkran­kung, das Feh­len alter­na­ti­ver The­ra­pien und die vor­han­de­nen wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­se genau beleuch­tet wer­den müs­sen.

1. Ein­zel­fall­prü­fung

Anders als bei klar zuge­las­se­nen Stan­dard­the­ra­pien erfolgt bei Off-Label-Anwen­dun­gen in aller Regel eine Ein­zel­fall­be­wer­tung. Kran­ken­kas­sen und Gerich­te prü­fen, ob die genann­ten Vor­aus­set­zun­gen vor­lie­gen und ob das Arz­nei­mit­tel tat­säch­lich sinn­voll ein­ge­setzt wer­den kann. Für Ärz­te bedeu­tet dies, dass sie eine hin­rei­chen­de Doku­men­ta­ti­on und Begrün­dung für die Wirk­sam­keit und Not­wen­dig­keit des Off-Label-Use bei­brin­gen müs­sen.

2. Wirt­schaft­lich­keits­ge­bot

Auch beim Off-Label-Use ist das Wirt­schaft­lich­keits­ge­bot des § 12 SGB V zu beach­ten. Nicht jede teu­re oder neu­ar­ti­ge Off-Label-The­ra­pie wird auto­ma­tisch über­nom­men. Viel­mehr kommt es auf eine Abwä­gung zwi­schen Kos­ten, Risi­ken und dem poten­zi­el­len Behand­lungs­er­folg an. Mini­ma­le Erfolgs­aus­sich­ten, die mit hohen Risi­ken oder Aus­ga­ben ein­her­ge­hen, las­sen zwei­feln, ob eine Kos­ten­über­nah­me gerecht­fer­tigt ist.

3. Zukunft des Off-Label-Use

Ange­sichts rasan­ter Ent­wick­lun­gen in der medi­zi­ni­schen For­schung kann es zu Ver­zö­ge­run­gen zwi­schen der Ver­füg­bar­keit neu­er Behand­lungs­me­tho­den und dem for­ma­len Zulas­sungs­pro­zess kom­men. Dadurch sowie durch das stei­gen­de Bedürf­nis nach indi­vi­du­el­ler The­ra­pie wird der Off-Label-Use auch zukünf­tig eine bedeu­ten­de Rol­le spie­len und Gegen­stand aktu­el­ler Dis­kus­sio­nen sein.

V. Fazit

Der Off-Label-Use von Arz­nei­mit­teln bie­tet in vie­len Fäl­len eine Chan­ce, Pati­en­ten mit schwer­wie­gen­den oder lebens­be­droh­li­chen Erkran­kun­gen zu behan­deln, wenn eta­blier­te Stan­dard­the­ra­pien ver­sa­gen oder gar nicht vor­han­den sind. Die vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt auf­ge­stell­ten Grund­sät­ze im soge­nann­ten „Niko­laus-Beschluss“ ver­deut­li­chen, dass ver­fas­sungs­recht­li­che Über­le­gun­gen wie das Recht auf Leben und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit eine zen­tra­le Rol­le ein­neh­men. Zugleich machen sie deut­lich, dass sich Ärz­te und Ver­si­cher­te nicht auf ein rei­nes „Ver­suchs­mo­dell“ stüt­zen dür­fen, son­dern zumin­dest eine gewis­se wis­sen­schaft­li­che Evi­denz für die Wirk­sam­keit vor­lie­gen muss.

In der Pra­xis erfor­dert jeder Off-Label-Use eine sorg­fäl­ti­ge Prü­fung durch Kran­ken­kas­sen und gege­be­nen­falls Sozi­al­ge­rich­te. Dabei sind sowohl die medi­zi­ni­schen Erfolgs­aus­sich­ten als auch das Wirt­schaft­lich­keits­ge­bot nach § 12 SGB V zu berück­sich­ti­gen. Durch die­ses Span­nungs­feld zwi­schen indi­vi­du­el­lem Hei­lungs­be­darf und den begrenz­ten Res­sour­cen der Soli­dar­ge­mein­schaft ent­steht ein kom­ple­xes Prüf­ver­fah­ren, bei dem immer der Ein­zel­fall ent­schei­det.

Unter dem Strich ermög­licht der Off-Label-Use eine fle­xi­ble­re Ver­sor­gung von Ver­si­cher­ten mit sel­te­nen oder kom­pli­zier­ten Krank­heits­bil­dern, trägt aber auch die Ver­ant­wor­tung, Behand­lun­gen nur dann zuzu­las­sen, wenn eine hin­rei­chen­de Erfolgs­aus­sicht besteht. Auf die­se Wei­se soll das Sys­tem einer­seits den betrof­fe­nen Pati­en­ten hel­fen, ande­rer­seits aber auch sicher­stel­len, dass die Soli­dar­ge­mein­schaft nicht unan­ge­mes­sen belas­tet wird.

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