Symposium 4. Oktober 2019, Keio Universität, Tokio

Teil 1: Die Folgen für die Rechtsanwälte

Guido Imfeld, Rechtsanwalt (DE-Aachen/BE-Liège), Vizepräsident der Rechtsanwaltskammer Köln

Sehr geehrter Herr Vize-Minister Tsuji, sehr geehrte Exzellenzen, sehr geehrte Frau Staatssekretärin Dr. Sudhof, sehr geehrter Herr Dekan Professor Dr. Iwatani, sehr geehrter Herr Präsident Dr. Grotheer, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren,

LegalTech und Künstliche Intelligenz (KI) sind Themen, die aktuell im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, nicht zuletzt aufgrund des OECD-Reports über den massiven Verlust von Arbeitsplätzen von white-collar-jobs durch KI-generierte Automatisierung. Geprägt wird die öffentliche Debatte derzeit von utopischen, häufig dystopischen Szenarien, die eine genaue Bestandsaufnahme und Reflexion dessen, was LegalTech und KI darstellen und was sie zur Zeit und in absehbarer Zukunft leisten können, häufig gesellschaftskritisch überlagern. Gleichzeitig werden die Begriffe LegalTech und KI in der öffentlichen Debatte synonym verwendet. Dies verstellt den Blick auf die Chancen und Herausforderungen, die hiermit, insbesondere für die Anwaltschaft verbunden sind.

Eine Begriffsklärung tut daher Not. Sodann soll die Schnittstelle von LegalTech und KI zum Beruf des Rechtsanwaltes reflektiert werden, um danach einen Ausblick in die Zukunft nebst Handlungsempfehlung zu wagen.

  1. Standortbestimmung

Erlauben Sie mir, mich Ihnen vorzustellen, um deutlich zu machen, aus welcher Perspektive ich zu Ihnen spreche. Ich bin seit 1996 Rechtsanwalt und fast ausschließlich im internationalen Wirtschaftsrecht tätig, mit Schwerpunkt im deutsch-belgischen Recht, da ich in Aachen, Deutschland und Lüttich, Belgien als Rechtsanwalt zugelassen bin. Gleichzeitig bin ich seit zwölf Jahren Vizepräsident der Rechtsanwaltskammer Köln, die als fünftgrößte der 28 Rechtsanwaltskammern Deutschlands mit Stand 2018 12.876 der bundesweit 165.857 zugelassenen Anwälte als Mitglieder zählt.

Die deutsche Anwaltschaft ist geprägt von dem Prinzip der Selbstverwaltung durch die regionalen Rechtsanwaltskammern und ihrem Dachverband, der Bundesrechtsanwaltskammer. Die Rechtsanwälte stehen nicht unter der Aufsicht eines Justizministeriums. Sie sind daher unabhängig, frei und selbstverwaltet.

Wenn ich heute zu Ihnen spreche, dann auch als Partner einer mittelständischen Kanzlei mit ca. 20 Berufsträgern, die den Herausforderungen von LegalTech und KI ausgesetzt ist und die aus meiner Altersperspektive noch ein Geschäftsmodell entwickeln muss, das für 20 Jahre taugt, was in Kategorien von LegalTech und KI eine Ewigkeit ist. Mein Sohn hat vor zwei Wochen sein Studium in Köln aufgenommen und braucht ein Geschäftsmodell für die nächsten 45 Jahre.

Als Vorstand der Rechtsanwaltskammer vertrete ich die Interessen der Rechtsanwaltschaft, die sich in Deutschland als Organ der Rechtspflege versteht und als solches das Privileg genießt, aber auch beansprucht, für ihre freiberuflichen Dienste ein Monopol der Rechtsberatung nach Maßgabe des Rechtsdienstleistungsgesetzes zu haben. Dies gilt es aus der Sicht der Rechtsanwaltschaft zu verteidigen, um die Tätigkeit des Anwaltes nicht auf eine standardisierte und austauschbare Dienstleistung, die nicht dem Gemeinwohl verpflichtet ist, zu reduzieren. Gleichzeitig eröffnen LegalTech und KI durch Skalierung und die Entwicklung neuer, digitalbasierter Geschäftsmodelle die Möglichkeit, den Zugang für Rechtssuchende zu bezahlbaren Rechtsdienstleistungen (access to justice) zu verbessern, eröffnet dadurch jedoch ein Konfliktfeld mit dem Rechtsberatungsmonopol der Anwälte.

Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Monopole freiberuflicher Dienstleistungen für Ärzte, Architekten, Ingenieure, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte Gegenstand eines gesellschaftlichen Konsenses sind, der aber nicht selbstverständlich ist (bereits in unserem Nachbarland Schweiz gibt es kein Monopol der Anwälte für Rechtsberatung). Es genügt daher nicht, das Monopol zu verteidigen, sondern es muss auch im Sinne gesellschaftlicher Akzeptanz gerechtfertigt werden. Deshalb dürfen wir uns der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, die internet-basierte kostengünstige Rechtsdienstleistungen, häufig unter Vereinbarung eines den deutschen Anwälten verbotenen Erfolgshonorars, erbringen und daher den Zugang insbesondere von Konsumenten zum Recht in einfach gelagerten Sachverhalten gewährleisten, nicht reflexartig verschließen. Dieses Spannungsverhältnis gilt es zu reflektieren und auszuhalten.

  1. Begriffsbestimmung

Künstliche Intelligenz ist nicht gleich LegalTech. LegalTech ist letztlich keine umwerfende Neuerung, sondern der Einsatz von digitalisierten Werkzeugen, die analoge Werkzeuge ersetzen. Anders dürfte dies bei der Künstlichen Intelligenz sein, die geeignet ist, die bisherigen Protagonisten vom Markt zu verdrängen.

2.1. LegalTech

LegalTech kann definiert werden als Standardisierung und Repräsentation von Wissen in strukturierten, maschinenverwertbaren Formaten, die darauf aufbauende Automatisierung von Prozessen mittels Software und vernetzten Computern und – in letzter Folge – die Disintermediation von institutionellen Akteuren, d. h. einen Prozess des Bedeutungsverlustes von Vermittlern in einem Wirtschaftssystem, die ehemals den Zugang zu diesem Wissen und seiner praktischen Anwendung monopolisierten.

Vor ca. 150 Jahren hatte der Jurist seinen, hoffentlich scharfen, Verstand, Papier, einen Stift und Gesetzbücher sowie die üblichen Kommentierungen oder Lehrbücher. Der Stift wurde irgendwann durch die 1868 erfundene Schreibmaschine ersetzt, die ihrerseits durch elektrische Schreibmaschinen mit Korrekturfunktionen verbessert und schließlich durch den Computer mit Textverarbeitungsprogrammen verdrängt wurde. Dasselbe gilt für Kopiermaschinen und Scanner, für Brief/Telefax und E-Mail. Gesetzbücher und Kommentare werden durch Datenbanken mit Suchfunktionen ersetzt. Strukturell sprechen wir über das Gleiche. Der Ersatz analoger Werkzeuge durch digitale führt zwar zu quantitativen und qualitativen Veränderungen des anwaltlichen Berufes, zur Optimierung von Prozessen, letztlich aber nicht zu wirklich strukturellen Umbrüchen.

Mit diesen Werkzeugen lässt sich die juristische Arbeit jedoch viel effektiver gestalten. Kosten werden reduziert, Qualität wird gesteigert, gespeichertes Wissen ist transparent verfügbar, Prozesse und Standardfälle können vereinheitlicht werden. Der demokratische Zugang zu Datenbanken ersetzt den limitierten Zugang zu eigenen oder Universitätsbibliotheken.

Gleichzeitig gibt es aber auch einen Rückkopplungseffekt. Parallel zu Zeit- und Kosteneffizienz-Vorteilen bzw. eigentlich infolgedessen wächst der Kosten- und Zeitdruck auf die Anwälte dramatisch. Erwünscht ist Feedback in Echtzeit. Viele Unternehmen fordern über elektronische Medien (E-Mail, Skype, Handy) eine permanente Verfügbarkeit des Anwalts. Und da dies anders als früher jetzt technisch möglich ist, wird es auch seitens der Mandanten vorausgesetzt. Ich erinnere mich an eine Diskussion in Lille mit dem CEO eines großen französischen Telekommunikationskonzerns, der es als selbstverständlich ansah, dass sein Anwalt ihm auch samstags um 22:00 Uhr antwortet, wenn er eine Frage hat. Meiner Antwort, dass ich ihm um diese Uhrzeit jederzeit aus etwaiger Untersuchungshaft helfen würde, jedoch bei einer ersichtlich nicht dringenden Frage eventuell erst am kommenden Montag antworten würde, begegnete er mit völligem Unverständnis. Das Konzept des unabhängigen Anwalts, der dem Mandanten auf Augenhöhe begegnet, war ihm ersichtlich fremd. Die Unabhängigkeit unseres Berufsstandes schwindet, auch teilweise das Ansehen. Etablierte gesetzliche Honorierungsmodelle wie das deutsche Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, das Mindeststandards der Abrechnung zumindest noch bei gerichtlichen Verfahren voraussetzt, werden in der Praxis infrage gestellt, sodass sich die Kostenreduzierung in der anwaltlichen Fertigung nicht unbedingt in einer höheren Gewinnmarge ausdrückt. Rechtliche Beratung wird zur Ware vergegenständlicht. Vor- bzw. Nachteile liegen zwar auf beiden Seiten. Aber der Zeit- und Wettbewerbsdruck hat in den letzten zehn Jahren erheblich zu- und nach meiner Auffassung auch ungesunde Ausmaße angenommen. Ich bin mir bei LegalTech nicht immer sicher, ob nicht wir Anwälte eher auf der Verliererseite stehen. Einige von uns mögen sich erinnern: Papier und Stift, Briefe per Post …

Nicht ersetzt wird bei dem Einsatz von LegalTech jedoch der juristische Verstand. Es gilt immer noch: „A fool with a tool is still a fool“. Der Kopf wird nach wie vor gebraucht. Er wird durch LegalTech unterstützt, nicht ersetzt. Arbeiten im Recht verlangt Methode, Vision und Kreativität, aber auch ein rechtliches Ethos. Anwälte sind keine bloßen Dienstleister im Auftrag des Mandanten und sollten sich auch – das ist ausdrücklich auch als Kritik an der Vermarktung unseres eigenen Berufsstandes gemeint –  nicht als solche darstellen. Sicher, wir leisten Dienste, sind aber gleichzeitig Organ der Rechtspflege, das weder ausschließlich die eigenen Interessen noch die des Mandanten, sondern auch der Justiz und Gerechtigkeit im Auge behalten muss. Wir müssen einen kritischen Abstand wahren.

Auf der positiven Seite der Bilanz von LegalTech steht hingegen zweifelsohne, dass die Digitalisierung die Schwelle des Zugangs zu der Profession für Berufsanfänger gesenkt hat und damit zur Demokratisierung des Berufsstandes beiträgt. Mit einem Laptop mit Spracherkennungssystem, dem Zugang zu juristischen Datenbanken wie juris oder Beck online, einem E-Mail Account und Drucker ist heutzutage bereits eine Kanzlei zu betreiben, ohne die sehr große Hürde der Investitionen in eine noch vor 25 Jahren übliche Kanzleiausstattung mit Räumlichkeiten und Sekretariat nehmen zu müssen. Die Außendarstellung übernimmt heute eine Internetseite. Google Ad erlaubt die suchmaschinenoptimierte Bewerbung von Kompetenz. Virtuelle Netzwerke wie LinkedIn ersetzen persönliche Kontakte und Privilegien.

Anwaltliche Dienstleistung wird vergleichbarer, transparenter. Digitale Geschäftsmodelle helfen, den Zugang zum Markt, gleichzeitig auch den Zugang der Rechtsuchenden zum Recht zu verbessern, wie zum Beispiel flightright.de, bankright.de, claimright.de etc., die Fälle bearbeiten, die zu angemessenen Kosten von Anwälten gar nicht mehr geleistet werden können.

Die Anwaltschaft wird sich dem Einsatz solcher digitalen Werkzeuge und Plattformen nicht verschließen können. Sie sollte auch digitale Geschäftsmodelle, die weiten Kreisen von Rechtsuchenden in geringwertigen Streitsachen einen effektiven Zugang zum Recht ermöglichen, nicht unter Berufung auf das Rechtsdienstleistungsmonopol zu verhindern suchen, sondern zulassen. Ansonsten riskieren wir, dass das Rechtsdienstleistungsmonopol in den wesentlichen Bereichen, wo der Anwalt seiner Rolle als Organ der Rechtspflege gerecht werden kann und muss, vom gesellschaftlichen Konsens nicht mehr getragen wird.

Wir müssen daher die Rolle des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege in einer demokratischen Gesellschaft und das darin zur Zeit noch verankerte Privileg des Rechtsdienstleistungsmonopols im Wege einer kritischen Bestandsaufnahme nach den Kriterien „hinreichend, notwendig und angemessen“ reflektieren. Wenn die Unabhängigkeit des Anwaltes als Organ der Rechtspflege eine der Voraussetzungen für die rule of law ist, dürfen wir vor allem nicht zulassen, dass Recht durch LegalTech vollständig ökonomisiert wird.

Denn wenn diese Gefahr bereits durch LegalTech droht, werden wir als Berufsstand der Herausforderung durch Künstliche Intelligenz nicht standhalten.

2.2. Künstliche Intelligenz

In der öffentlichen Debatte ist Künstliche Intelligenz eine Schimäre, auf die utopische oder dystopische Erwartungen projiziert werden. Es ist die Angst vor der eigenen Überflüssigkeit, die die Debatte treibt.

KI kann als Algorithmen, d. h. in einzelne Schritte heruntergebrochene Anweisungen, die von einem Computer maschinell abgearbeitet werden können und in Software abgebildet sind, sowie Daten, die von eben jenen Systemen verarbeitet werden, definiert werden. Den Daten kommt im Kontext von KI-Systemen dabei eine besondere Rolle zu: Sie fungieren nicht als reines Substrat, das im Eingabe-Verarbeitungs-Speicherungs-Ausgabe-Schema durch das System hindurchläuft, sondern sie dienen vielmehr als eine Art Baustoff für ein künstlich intelligentes System, da solch ein System im wesentlichen Verhalten aus eingespeisten Datenmustern repliziert. Das zentrale Versprechen Künstlicher Intelligenz liegt in der Automatisierung kognitiver Aufgaben. Ein konstitutives Element der KI ist dabei das maschinelle Lernen.

Regelbasierte Textverarbeitung, Schachcomputer, vernetzte Datenbanken sind genauso wenig Künstliche Intelligenz wie die „Auto Suggest“ oder „Auto Correct“ Funktionen, selbst wenn letztere wohl dadurch, dass sie sich auf den Benutzer einstellen, ein selbstlernendes Element beinhalten. Pragmatisch könnte man den Terminus Künstliche Intelligenz mit „überraschenden Fähigkeiten von Computern“ übersetzen[5]. Dies greift aber letztlich zu kurz, weil das, was uns noch in den neunziger Jahren überraschte, heute als völlig normal, häufig als datenbankorganisierte Vernetzung von Informationen wahrgenommen wird. Im Gegensatz zu meinen Großeltern würde heutzutage niemand einen Taschenrechner als KI im Sinne von „überraschend“ bezeichnen. Kinder halten berührungsempfindlichen Bildschirme bereits für normal und führen Unterhaltungen mit Siri.

KI-Systeme existieren bereits und werden vor allem im Risikomanagement, in der Bilderkennung, der Textkategorisierung und bei der Bewältigung standardisierter kognitiver Aufgaben eingesetzt. Standardisierte, kognitive Aufgaben sind Aufgaben, die häufig anfallen und stets auf dieselbe Art und Weise bearbeitet werden. Deep Blue als Schachcomputer konnte dies teilweise. IBM‘s Computer Watson kann jedoch in einer neuen Qualität selbstständig Muster als Standards erkennen und eigenständig lernen, die damit verbundene Aufgabe kognitiv zu bewältigen.

Wir sind allerdings noch Jahre entfernt vom Ersatz menschlicher kognitiver Intelligenz durch Künstliche Intelligenz in den Rechtswissenschaften. Sicher, es gibt Suchtechnologien zur Identifikation relevanter Dokumente oder Textstellen, Werkzeuge zur Extraktion strukturierter Informationen und es gibt mittlerweile Werkzeuge zur Entscheidungsvorhersage und Risikobewertung durch Erfassung riesiger Datenmengen, zum Beispiel Erfolgsaussichten von Berufungen oder Revisionen in bestimmten Rechtsgebieten.

Man darf allerdings nicht übersehen, dass es zuvor notwendig ist, Watson mit riesigen Datenmengen zu versehen und ihn zu programmieren. Als Watson sein menschliches Gegenüber in der TV-Spielshow Jeopardy oder Ke Jie bei einem Go-Turnier schlug, lag dies auch an dem Input hunderter hochkompetenter Ingenieure und tausenden von Stunden Trainingsleistung. Auf der Ebene von Rechtsanwaltskanzleien kann dies gar nicht geleistet werden.

Es gibt Ansätze. 2017 haben z.B. Jura- und Informatikstudierende innerhalb von drei Wochen mit der Aufgabenstellung „Create a web app!“ gemeinsam mit dem Watson Knowledge Studio und dem Sprachtool ein Lawnet-Tool entwickelt, das Gerichtsentscheidungen nach Aktenzeichen, Normen und Verweisen durchsucht und den Erfolg und Nichterfolg von Revisionen nachverfolgt. Mit LawStats wurden Statistiken entwickelt, welche Landgerichtsentscheidungen erfolgreich oder nicht erfolgreich mit der Revision angefochten werden konnten. Die erste Variante dieses Tools funktionierte dabei nicht ganz wie gewünscht, zu viele unklare Entscheidungen verwässerten das Ergebnis. 2018 ist mit LawStats 2.0 aber ein funktionierendes Revisionstool entstanden[6]. Aber auch hier sprechen wir nicht von Rechtsanwendung, sondern eher von Statistik und quantitativer Risikoanalyse.

KI-Systeme können bereits fast selbsttätig Unterstützung bei standardisierten Prozessen wie einer financial oder tax due diligence leisten. Es gibt Werkzeuge zur standardisierten Vertragsanalyse. Dies ist aber noch nicht Rechtsberatung, sondern datenbankbasierte Unterstützung in der Rechtsberatung. Zurzeit machen diese Tools und Apps im wesentlichen sogenannte Paralegals, anwaltliche Hilfskräfte arbeitslos, und reduzieren die Anzahl der billable hours der Berufsträger.

Bis Siri oder Alexa in Form eines Chats, d. h. aufgrund schrift- oder vokalbasierter nicht standardisierter Eingabe in das System ein juristisches Muster, also ein rechtliches Problem identifizieren, und dann eigenständig durch Rückgriff auf Datenbanken nach Maßgabe einer zu ermittelnden materiellen Rechtsordnung lösen können, wird noch sehr viel Zeit vergehen.

  1. Ausblick

Aber diese Zeit wird kommen. Wir wissen nur nicht, wann, in 10, 20 oder 50 Jahren? Eher früher als später. Da die sich aus dem Einsatz von KI ergebenden Herausforderungen jedoch bereits jetzt offen liegen, lohnt sich der Blick in die Zukunft, um zu reflektieren, wie die Anwaltschaft als Profession im Kontext des Contrat Social hiermit umgeht.

Meine These ist: Watson, Siri und Alexa werden über kurz oder lang anwaltliche Dienstleistung bei der Lösung einfacher und mittelschwerer standardisierter Rechtsfälle ersetzen können, nicht aber Rechtsanwälte und ihre Beratung, wenn diese sich nicht nur als Dienstleister verstehen und vermarkten, sondern als Berufsträger, die die core values der Rechtsanwaltschaft leben und  verteidigen: Unabhängigkeit, Verschwiegenheit, Kompetenz und Loyalität.

Da Märkte jedoch häufig preisgetrieben sind, täte die Anwaltschaft gut daran, selbst im Bereich LegalTech und KI Protagonist zu werden und mit den Entwicklungen offensiv umzugehen. Bislang werden Angebote an LegalTech oder Künstlicher Intelligenz fast ausschließlich von LegalTech-Unternehmen gestellt, nicht aber von der Anwaltschaft. Es ist ein lukrativer Geschäftszweig, der Milliardeninvestitionen anzieht, bei dem auch Anwälte mitwirken, aber die Anwaltschaft über ihre Standesvereinigungen als solche nicht treibende Kraft ist. Die europäische Standesvereinigung, CCBE, hat 1 Million Mitglieder. Dies ist ein immenses Potenzial für crowdfunding.

In Diskussionen mit anderen Standesvertretern wird mir hierauf häufig entgegnet, dass die Erbringung wirtschaftlicher Tätigkeiten nicht Aufgabe der Standesvertretungen ist und im Übrigen das gesetzlich verankerte Monopol für Rechtsdienstleistungen ausreicht, um nicht-anwaltliche Wilderer aus unserem Revier zu vertreiben. Das erste Argument geht an der Sache vorbei, denn Initiieren heißt nicht notwendigerweise Betreiben. Meines Erachtens ist es jedenfalls Aufgabe der Standesvertretungen, Impulse zu geben. Das zweite Argument ist zu hinterfragen.

Denn es stellt sich die Frage, ob automatisierte Rechtsdienstleistung überhaupt tatbestandlich gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstoßen kann. Die Rechtsdienstleistung ist gemäß dem Rechtsdienstleistungsgesetz den Anwälten vorbehalten. § 2 Abs. 1 des Gesetzes definiert diese wie folgt:

(1) Rechtsdienstleistung ist jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert.

Die rechtliche Prüfung des Einzelfalls bezeichnen wir als Subsumtion. Die Subsumtion ist der Vorgang, bei dem man einen Begriff unter einen anderen ordnet. In der Rechtswissenschaft wird der Begriff als Anwendung einer Rechtsnorm auf einen Lebenssachverhalt („Fall“), das heißt als Unterordnung des Sachverhaltes unter die Voraussetzungen der Norm, verstanden. Rechtsnormen haben regelmäßig eine Wenn-Dann-Struktur. Sie zerfallen in einen Tatbestand (Wenn-Teil) und eine Rechtsfolge (Dann-Teil). Der Tatbestand setzt sich meist aus mehreren Tatbestandsmerkmalen (z. B. „fremd“, „Eigentum“) zusammen. Liegen die erforderlichen Tatsachen vor, so ist das entsprechende Tatbestandsmerkmal erfüllt. Sind alle Tatbestandsmerkmale gegeben, so tritt die Rechtsfolge ein. Wenn Sie das an einen Algorithmus erinnert, liegen Sie nicht sehr falsch.

Wird diese Leistung über einen Algorithmus erbracht wird, stellt sich die Frage, ob der Begriff der „Tätigkeit“ erfüllt ist. Kann ein Computer tätig sein? Der Duden definiert „Tätigkeit“ als „das Tätigsein, das Sich Beschäftigen mit etwas“. Dies scheint nahe zu legen, dass es ein bewusster und damit menschlich-kognitiver Vorgang ist. Algorithmen-basierte Rechenvorgänge wären daher dem Anwendungsbereich des RDG entzogen. Mindestens dürfte die Gefahr einer Regelungslücke vorliegen.

Die liberale Partei in Deutschland, FDP, hat daher am 17.04.2019 einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der § 2 Abs. 1 RDG wie folgt ergänzen soll:

„Eine Tätigkeit im Sinne des Satzes 1 kann ganz oder teilweise automatisiert erbracht werden.“

Damit wären Algorithmen-basierte Rechtsdienstleistungen vom Gesetz umfasst und einem Erlaubnisvorbehalt unterstellt. Dies würde eine Kontrolle der automatisierten Rechtsdienstleistungen erlauben und damit die Gewährleistung von Mindeststandards.

Dies könnte einem vollständigen Kontrollverlust der Rechtsanwaltschaft aufgrund des Einsatzes von KI entgegenwirken. Denn LegalTech und KI sind Algorithmen-basiert. Wir kennen diese Algorithmen jedoch nicht. Wie und vor allem nach welchen Kriterien funktionieren sie? Wie lösen sie Ziel- und Interessenkonflikte? Wenn in Zukunft eine Vielzahl von Rechtsfällen über KI ohne menschliches Zutun gelöst werden könnten, stellt sich daher dringend die Frage, welche Interessengruppen diese Algorithmen verantworten.

Einer Delegation der Bundesrechtsanwaltskammer wurde zum Beispiel im Februar 2018 bei dem Besuch des Shanghai High People’s Court eine Software vorgestellt, die die Urteile eines Richters auf logische Inkohärenzen und abweichende Urteile des eigenen Gerichtshofs oder der Obergerichte prüft. Diese Software kann sehr hilfreich sein, kann aber auch trotz des zivilrechtlichen Hintergrunds ein Mittel zur sozialen oder politischen Kontrolle der Richter und der Rechtsprechung werden. Auch werden möglicherweise Interessenverbände, ob direkt oder durch outgesourcte Unternehmen, durch die Bereitstellung von KI-Software Einfluss auf die Rechtsprechung nehmen wollen, zum Beispiel, wenn Versicherungsunternehmen Software zur Bearbeitung von Arzthaftpflichtfällen oder Verkehrsunfällen oder Arbeitgeberverbände eine internetbasierte Plattform zur Lösung arbeitsrechtlicher Fallgestaltungen bereitstellen, ohne dass dies transparent gemacht wird oder überhaupt kontrolliert werden kann.

Aufgrund des mit KI einhergehenden Kostendrucks und der langfristigen Verdrängung anwaltlicher Akteure aus gewissen Marktsegmenten besteht daher die naheliegende Möglichkeit eines Kontrollverlusts bereits auf der Ebene des anwaltlichen Handwerkszeugs, der Subsumtion. Diesem Kontrollverlust kann dadurch begegnet werden, dass die Anwaltschaft selbst KI-basierte Lösungen generiert.

Damit würde sie ihre Unabhängigkeit stärken. Rechtsdienstleistungen würden weiter demokratisiert werden, weil Rechtssuchende die Möglichkeit hätten, auf von der Rechtsanwaltschaft gestellte Computerprogramme zur Lösung standardisierter Rechtsfälle zuzugreifen. Kleine und mittelständische Kanzleien könnten dem Wettbewerbsdruck von Drittanbietern und großen law firms mit tausenden von Anwälten, die die finanziellen und personellen Ressourcen zur Entwicklung solcher Programme hätten, entgegentreten.

Mittel- bis langfristig wird sich aber auch damit nicht verhindern lassen, dass die Rechtsanwälte, die standardisierte Fälle, zum Beispiel Verkehrsrecht, Mietrecht, Arbeitsrecht, Reiserecht etc. bearbeiten, in ihrer beruflichen Existenz gefährdet werden. Dies ließe sich nur mit einem absoluten Monopol der Rechtsanwälte für Rechtsdienstleistungen erreichen. Allerdings wäre meine These, dass ein solches Unterfangen spätestens unter Berücksichtigung einer weltweiten digitalen Vernetzung genauso viel Erfolg hätte wie der britische Red Flag Act von 1865, mit dem mutmaßlich auf Betreiben einer Lobby von Pferdebesitzern und Eisenbahngesellschaften Automobilisten gezwungen waren, ihrem Fahrzeug einen Fußgänger mit einer roten Flagge voraus laufen zu lassen. Geschätzt gibt es in der EU heute 6,9 Millionen Pferde und 290 Millionen Kraftfahrzeuge. Soweit zum Erfolg des Red Flag Act.

  1. Ergebnis

4.1.

LegalTech unterstützt anwaltliche Tätigkeit. Sie kann zu Konkurrenz zur traditionellen Rechtsberatung durch Anwälte führen, ist aber vor allem als unterstützendes Werkzeug zu verstehen.

4.2.

LegalTech erlaubt die Entwicklung Internet-basierter Anwendungen, die kostengünstig und effizient standardisierte Rechtsfälle lösen. Die Anwaltschaft sollte dem nicht ablehnend gegenüberstehen, um dem Postulat des Zugangs zum Recht zur Durchsetzung zu verhelfen in den Bereichen, in denen vor allem Konsumenten keinen effektiven Zugang zum Recht mehr haben. Eine engstirnige Verweigerungshaltung könnte die Aufkündigung des contrat social, der den Anwälten das Monopol der Rechtsberatung gewährt, zur Folge haben. Wie schnell Traditionen und als unverbrüchlich wahrgenommene Standards infrage gestellt werden, sehen wir gerade im Bereich der internationalen Handelspolitik, des Brexit und den Angriffen populistischer Parteien auf die Institutionen der EU.

4.3.

KI sollte durchaus als Herausforderung verstanden werden. KI kann anwaltliche Dienstleistung ersetzen. Durch Einbeziehung in das Rechtsdienstleistungsgesetz wird Rechtsberatung mittels KI erlaubt, kann aber dadurch qualitativ reguliert werden. Die Anwaltschaft sollte jedoch Protagonist und nicht nur Beobachter sein, um nicht die Kontrolle über diese Werkzeuge zu verlieren und damit ihre Unabhängigkeit als Organ der Rechtspflege zu wahren. Letzteres ist notwendig, da eine unabhängige, kritische Anwaltschaft unabdingbare Voraussetzung für die Gewährleistung der rule of law ist.

Guido Imfeld

Über den Autor

  • Guido Imfeld

    Guido Imfeld ist zugelassener Anwalt seit 1996 und Fachanwalt für Internationales Wirtschaftsrecht, für Handels- und Gesellschaftsrecht. Seit dem Jahre 2000 ist er auch in Belgien als Anwalt zugelassen. Zum Anwaltsprofil